Lust auf Kultur Warum die Auseinandersetzung mit Kunst im Alnatura Magazin? Alnatura entspringt aus einem Denken, das die Welt nicht nur auf das Materielle reduziert – vielmehr geht es um die Förderung der menschlichen Entwicklung. Leben heißt handeln Wider die Gleichgültigkeit oder Gedanken zum Jahresanfang D as vergangene Jahr war sehr herausfordernd: Putins Russland hat uns gezeigt, was es von internationalem Recht und Menschenrechten hält. Während wir (berechtigterweise) über das Gendern der Sprache diskutieren, zeigen die machthabenden Taliban in Afghanistan, was sie von Frauen generell halten. Ein paar Kilometer weiter der Iran der Scharia. Schreiendes Unrecht allerorten. Plötzlich merken wir, von was für Welten und von welchem Denken wir umgeben sind, und können uns glücklich schätzen, dass der erste Artikel unserer Verfassung lautet: Die Würde des Menschen ist unan - tast bar. Aber wir leben auf keiner Insel, in der heutigen Zeit sowieso nicht, und erst recht nicht, wenn es um unser globales Klima geht. Man könnte entgegnen: Wann soll das gewesen sein, als die Welt noch keine Katastrophe war? Jede Generation hat zu ihrer Zeit immer gemeint, dass die Welt ein Jammertal ist und früher alles besser war. Aber ganz klar: Faschisten können besiegt werden, Diktatoren gestürzt. Doch für eine Erderwärmung in dieser Geschwindigkeit mit Bruthitze, Wetter extremen, Ernteausfällen, Gletscherschmelzen und allem, was dazugehört, gibt es in der Geschichte noch kein Beispiel. Und es ist unwahrscheinlich, dass eine derartige Katastrophe rückgängig gemacht werden kann. Die oder der Einzelne könnte sich fragen, was sie oder er jetzt überhaupt noch ausrichten kann. Oder ob es im Grunde schon egal ist, wie man damit umgeht und sich verhält. NICHT AUF HÖHERE MÄCHTE WARTEN ODER ANDERE ZEITEN Bei der Frage des Verhaltens der und des Einzelnen kann uns laut Robert Habeck, Vizekanzler und Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz, der französische Schriftsteller und Philosoph Albert Camus weiterhelfen. In einem Artikel für die Welt (»Die zehn Bücher, die mich prägten«, veröffentlicht am 12. Mai 2017) schreibt Habeck: »Ich war ungefähr 16, als ich mir das erste ernste philosophische Buch selbst gekauft habe. Es war ein ›Lesebuch‹ mit Schriften von Albert Camus mit dem Lebensmotto gebenden Titel ›Unter dem Zeichen der Freiheit‹ […] Und bis heute ertappe ich mich dabei, wie sehr mich diese Grundüberlegungen des Existenzialismus geprägt haben: Bejahung auch des scheinbar Absurden; nicht auf höhere Mächte warten oder andere Zeiten, sondern wissen, dass wir nur diese Zeit haben und es an uns liegt, was wir draus machen; die Möglichkeit, das Schicksal durch einen kühnen Entwurf zu ändern […]. Aber eindringlich verändernd war das Buch eigentlich wegen seines Coverbildes. Es zeigt Camus, Kippe im Mundwinkel, konzentriert, ab- Albert Camus hat zahlreiche Romane, Essays und Aufsätze geschrieben. In den 1940erund 1950er-Jahren wurde er zur Berühmtheit unter den Intellektuellen in Frankreich. 56 Alnatura Magazin Januar 2023
gewandt, frei – im Denken wie im Sein. Ich dachte damals: So willst du auch sein. Und was ich später angefangen habe, ich glaube, ich habe es getan wegen dieses Fotos.« Mit »getan« meint Robert Habeck sicherlich, in die Politik zu gehen, um Dinge zu verändern: Nun muss der Bundesminister für Wirtschaft und Klimaschutz sogar einen Jahrhundertkonflikt zwischen Ökonomie und Ökologie in einem Ministerium und in seinem Kopf aushalten. Er kann sich nicht, wie das bislang zwischen Umweltministern und Wirtschaftsministern auf der ganzen Welt üblich war, auf eine Seite schlagen. LEBEN HEISST HANDELN Sprechen wir also über den von Robert Habeck erwähnten Begriff »Freiheit« von Camus. Die Freiheit ist der Leitbegriff des französischen Schriftstellers, Philosophen und Existenzialisten. Die Freiheit wird zur Losung für die Einzelne und den Einzelnen, sich der eigenen Chancen ohne Furcht vor den übermächtigen Instanzen mit Selbstbewusstsein entgegenzustellen. Sinngemäß hat Camus einmal gesagt, dass Freiheit nicht heißt, tun und lassen zu können, was man will, sondern Freiheit vielmehr bedeutet, sich für die Dinge einsetzen zu können, die es einem wert erscheinen. In »Die Pest«, ein Roman von Camus, den Robert Habeck während der Coronapandemie nach eigenen Angaben wieder in die Hand genommen hat, lässt Camus den algerischen Arzt Bernard Rieux, der in der von der Pest heimgesuchten Stadt einen einsamen Kampf gegen die Seuche führt, sagen: »Ich glaube, ich habe keinen Sinn für Heldentum und Heiligkeit. Was mich interessiert, ist, ein Mensch zu sein.« Mensch zu sein bedeutet für Camus zugleich, sich der unauflöslichen Schicksalsgemeinschaft mit allen Menschen bewusst zu sein. mf ÜBER ALBERT CAMUS Als Albert Camus, 1913 geboren, in der Nähe von Algier in bitterer Armut allein mit seiner Mutter aufwächst, deutete nichts darauf hin, dass er eines Tages das Lebensgefühl einer ganzen Generation in Frankreich, und darüber hinaus, prägen sollte. Seine Romane und Dramen, seine Essays zur Philosophie und zur Politik handeln von den großen Fragen der menschlichen Existenz: Freiheit und speziell Verant wortung. »Die Pest« und »Der Fremde«, »Der Mythos des Sisyphos« und »Der Mensch in der Revolte« können uns auch oder gerade in unseren heutigen, herausfordernden Zeiten enorm viel geben. Das Leben ist ein Drahtseilakt und birgt unzählige Überraschungen. Das Leben ist ein Stück absurd. Damit stand Camus nicht allein, da gab es auch noch Jean- Paul Sartre. Aber im Gegensatz zu Sartre lautete das Resümee von Camus immer Ja zum Leben. Ja zum Handeln. Sein viel zu früher Tod spiegelt die Absurdität des Lebens wider: Ein Bahnticket in der Tasche, bei einem Freund spontan im Auto von Südfrankreich nach Paris mitgefahren, findet Camus’ Leben ein jähes Ende an einem Baum am Rande der Straße. Wir wissen nichts, aber wir müssen leben. Alnatura Magazin Januar 2023 57
Januar 2023 ISSN 1612-7153 Gut zu w
JANUAR 2023 Seite 24 Gut zu wissen
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